Vorbemerkung zur Gattung Platanthera
Nach aktuellem Kenntnisstand können die in Mittel-Europa vorkommenden Sippen der Waldhyazinthen auf Basis ausführlicher morphometrischer, molekulargenetischer und ökologischer Untersuchungen drei in sich mehr oder weniger variablen Taxa zugeordnet werden, einmal den beiden traditionellen Arten Platanthera bifolia und Platanthera chlorantha sowie der morphologisch zwischen den beiden stehenden intermediären dritten Art, Platanthera pervia (hier inklusive der Platanthera muelleri). Diese drei Taxa lassen sich im Feld anhand der gut differenzierenden Merkmale der Gynostemium-Organe mit folgendem Schlüssel weitestgehend sicher bestimmen. Dabei soll auch die Zusammensetzung der Populationen beachtet werden, da sich in Mischpopulationen von P. bifolia/P. chlorantha selten einzelne Hybriden P. ×hybrida bilden können, die ebenfalls morphologisch intermediäre Merkmale aufweisen, genetisch aber eben nicht der P. pervia zuzuordnen sind. Auf der anderen Seite sind hybridogene Kontakte zwischen allen drei Taxa sehr wahrscheinlich.
Sporneingang (Schlund) offen, völlig frei einsehbar, rundlich, beiderseits ohne Drüsenhöcker, Caudicula ≥ 0,5 mm lang
Sporneingang (Schlund) verengt, beiderseits durch mehr oder weniger große, drüsenartige Höcker leicht verdeckt, somit schmal länglich erscheinend, Caudicula 0,1-0,4 mm lang
Antherenfächer leicht auseinanderstehend, parallel bis leicht nach unten divergierend, Caudicula 0,5-1,1 mm lang
Antherenfächer oben leicht bis deutlich auseinanderstehend, nach unten stark divergierend, unten sehr weit auseinander stehend, Caudicula 1,5-2,1 mm lang
Pflanzen populationsbildend, entweder alleinstehend oder gemeinsam mit nur einer der beiden Arten P. bifolia/P. chlorantha
Pflanzen einzeln bis wenige Exemplare in Mischpopulation der beiden Arten P. bifolia/P. chlorantha
Merkmale
[Die nachfolgend aufgeführten Werte beziehen sich auf biometrische Untersuchungen mitteleuropäischer Pflanzen aus Baden-Württemberg (n = 240), Nordrhein-Westfalen (n = 120), Belgien (n = 120), Steiermark (n = 9) und Veneto (n = 20), die Blütenmaße auf die unteren Blüten des Blütenstandes.]
Geophyt mit 2 rübenförmigen Knollen, Enden wurzelartig verlängert; Stängel 25–80 cm hoch, am Grunde mit 2, selten 1 oder 3 gegenständigen Laubblättern und darüber 1–8 am Stängel verteilten, diesem nahezu anliegenden tragblattartigen Stängelblättern. Grundblätter 9–20 × 2–7,5 cm lang × breit, oval, hellgrün, meist nur schwach glänzend, flach ausgebreitet; oberstes Stängelblatt 1,5–4,5 × 0,3–1 cm schmallanzettlich, grün, kürzer als oberstes Internodium. Blütenstand 5–25 × 3–6 cm, zylindrisch, locker bis dicht, mit 10–50 weißen, meist apikal gelblichgrün angehauchten Blüten. Tragblätter (11–28 × 4–10 mm) lanzettlich, ± so lang wie der Fruchtknoten. Seitliche Sepalen (8–17 × 4–6 mm) schief lanzettlich, ± waagrecht abstehend. Mittleres Sepal etwas kürzer und breiter (6–10 × 5,5–8,5 mm), mit den sichelförmigen Petalen (6–11 × 1,8–3,5 mm) einen Helm bildend. Lippe (9,5–17,5 × 2,5–4,5 mm) schmal zungenförmig, rückwärts gebogen. Sporn 27–50 mm lang, basal 1,3–2,7 mm, dazwischen schmaler, apikal leicht verdickt, 1,0–2,3 mm breit, ± waagrecht, stecknadelförmig, in der hinteren Hälfte gelblichgrün, mit Nektar gefüllt; Sporneingang 0,8–1,7 mm, beiderseits frei von Höckern, rundlich bis oft am Grund zur Lippe leicht eingeschnitten. Gynostemium 3,5–5,5 mm hoch, an der Basis 2,5–4,5 mm breit, am Konnektiv gestutzt bis gewölbt. Antherenfächer 2–3 mm lang, parallel, mit fortschreitender Anthese leicht divergierend, Spalt oben 0,3–1 mm, unten 0,6–2,2 mm breit. Pollinarien 2–3 mm lang, dottergelb, Stielchen (Caudicula) 0,5–1,1 mm lang, mit leicht schräg über ± deutliches Pedicell aufsitzenden, 0,6–0,9 mm breiten Klebscheiben. Ovarium 11–19 mm lang, unbefruchtet
1,0–1,8 mm breit, befruchtet bis 4 mm breit, sitzend. Geruch süßlich, untertags schwach, abends zunehmend stark.
Vegetations- und Blütezeit
Ende Mai (Veneto), Juni (BW, NRW, B), Mitte Juli (Steiermark), bei sympatrischen Vorkommen mit spätblühender P. bifolia (Oberrhein) gleichzeitig mit dieser, mit P. chlorantha (B) nach dieser. Allogamie mit hohem Fruchtansatz von 60-80%. Bestäuber z.Zt. noch unbekannt, vermutlich langrüsselige Schwärmer und Große Nachtfalter. Fruchtreife spät, ab Ende September – Oktober.
Variabilität
Die Abmessungen aller vegetativen und floralen Organe zeigen in allen bekannten Gebieten eine breite Streuung sowohl innerhalb als auch zwischen einzelnen Populationen.
Unterscheidung von ähnlichen Arten
P. bifolia hat einen am Ende schmaleren Sporn, einen etwas schmallänglichen Sporneingang mit beidseitigen Höckern, Antherenfächer sind parallel, sehr eng, das Stielchen des Pollinariums ist mit 0,1-0.4 mm deutlich kürzer.
P. chlorantha besitzt grünlicher getönte Blüten, von oben nach unten stark divergierende, weiter auseinanderstehende Antherenfächer und mit 1,3–2,4 mm Länge ein deutlich längeres Stielchen des Pollinariums.
Hybriden
Bei gemeinsamen Vorkommen mit P. bifolia am Oberrhein können verschiedene Stufen von Zwischenformen beobachtet werden, die anzeigen, dass auch diese beiden Taxa miteinander hybridisieren können. Bei gemeinsamen Vorkommen mit P. chlorantha konnten bislang keine entsprechenden Zwischenformen bestätigt werden.
Wuchsorte
Gut wasserversorgte Biotope wie Streuwiesen, Flachmoore, kolline bis montane Magerwiesen, lichte Kiefernwälder mit ± feuchten Senken bis Hainbuchen-Ahorn-Mischwald auf neutralen bis basenreichen Böden.
Verbreitung
Noch unzureichend bekannt. Aktuell nachgewiesen ist P. pervia unter Einschluss der P. muelleri aus Mitteleuropa von Ostwestfalen über das Dreiländereck bis Belgien, Baden-Württemberg (Oberrhein, Obere Gäue), Nordost-Italien, Österreich, Frankreich, Spanien. Eine mögliche Zugehörigkeit intermediärer Sippen aus Süditalien (P. bifolia subsp. osca) und Georgien (Kaukasus, sub falsch angewandtem Namen P. kuenkelei subsp. atropatanica) wird noch überprüft, ist aber nach derzeitigem Auswertungsstand unwahrscheinlich. Von 50 – 1650 m ü.d.M. In Baden-Württemberg von 100 m bei Karlsruhe bis 525 m bei Neuhausen im Biet.
Gefährdung
Intensive Beweidung, Düngung oder Brachfallen der Grünländer, Verbuschung, Aufforstung. § streng geschützt (BNatSchG, LNatSchG).
In der aktuellen Roten Liste (2023) wird die für Baden-Württemberg als eigenständig erkannte Art noch nicht geführt; ihre bislang bekannten Vorkommen in Baden-Württemberg liegen ausschließlich in NSGs. Aufgrund ihrer Seltenheit wird die Einstufung gefährdet (3), regional gefährdet (3, Rh) und stark gefährdet (2, SG) vorgeschlagen.
Literaturhinweise
Der Text wurde überwiegend nach den folgenden Literaturangaben erstellt:
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Petermann, W.L. (1846): Analytischer Pflanzenschlüssel für botanische Excursionen in der Umgegend von Leipzig.- Leipzig.
Text: Jonas Bleilevens, Marcus A. Koch, Richard Lorenz