Orchideen in Baden-Württemberg
Neotinea ustulata var. aestivalis (Kümpel) Tali et al.
Brandknabenkraut, spätblühende Varietät
Synonyme: Orchis ustulata var. aestivalis
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Merkmale
Knollengeophyt mit zwei unterirdischen Knollen und zahlreichen Nebenwurzeln. Aus ihnen entwickelt sich der Jungtrieb, der im Herbst oder Frühjahr bis zur Erdoberfläche treibt. Die Varietät neigt weniger als die Nominatsippe zur Büschelbildung. Der Blütentrieb bildet insgesamt 4‑6 Laubblätter aus, davon 2‑3 rosettige Grundblätter; diese sind eiförmig lanzettlich, blaugrün und ungefleckt. Die Stängelblätter setzen hoch an; das oberste umhüllt den Stängel. Der Blütenstängel erreicht eine Höhe von 25-80 cm, der Blütenstand von 5,5‑15 cm mit 28‑80 (130) Blüten. Im aufblühenden Zustand ist der Blütenstand spitzkegelig und schwärzlich, später walzenförmig und dicht wie bei der Nominatsippe. Die Blüten sind sehr klein und nur geringfügig größer als bei der Nominatsippe; sie duften abweichend von der Nominatsippe nach Zitrone. Die Perigonblätter bilden einen Helm; er ist außen dunkelrot bis schwarzbraun, inne grünlich. Die Sepalen sind schief eiförmig, ihre Enden mehr oder weniger nach außen geneigt, die Petalen auf schmaler Basis nach außen verbreitert. Die Lippe ist 6‑7,8 mm lang und 5‑6,5 mm breit, dreilappig mit weit vorgezogenem, gespaltenem Mittellappen und abstehenden, lanzettlichen Seitenlappen; alle lippenteile sind weiß mit purpurroten Punkten und Strichen, Sporn kegelförmig, Sporneingang eng, ohne Nektar, Fruchtknoten gedreht. Die Unterschiede zur Nominatsippe sind genetisch fixiert.
Vegetations- und Blühzeiten
Während sich die Zeit des Blattaustriebes nur geringfügig von der Nominatart unterscheidet, treibt der Blütenstängel in tieferen Lagen erst gegen Ende Mai und blüht dort in der zweiten Junihälfte auf, während die Nominatart dort gegen Ende Mai abgeblüht ist. In Lagen der Mittelgebirge kommt es zu zeitlichen Verschiebungen bei beiden Formen und in höheren Gebirgslagen zu einer Angleichung und Überschneidung der Blütezeiten. Der Fruchtansatz liegt höher als bei der Nominatart. Während bei dieser die Fruchtreife ab Ende Juli eintritt, ist die bei der späten Varietät erst Ende August oder im September soweit.
Variabilität
Die Variabilität der späten Varietät ist in allen Merkmalen größer als bei der Nominatart, insbesondere hinsichtlich der Wuchshöhe und der Blütenzahl. So kann es Populationen geben, in denen sich die Blütenzahl nicht unterscheiden, auch wenn sie bei der späten Varietät durchschnittlich höher ist. Die Wuchshöhe kann auch innerhalb derselben Population der späten Varietät stark differieren. Diese Variabilität beruht vermutlich auf Genaustausch zwischen den beiden Formen, der in keiner Region völlig ausgeschlossen ist. Auch gibt es größere Unterschiede zwischen den Populationen in England und Osteuropa gegenüber den Mitteleuropäischen Populationen. Die genetischen Unterschiede zwischen diesen Regionen beruhen wahrscheinlich auf getrennten Entwicklungslinien.
Hybriden
Hybriden können mit anderen Arten der Gattung Neotinea bei Überschneidungen der Blütezeit auftreten, sind aber aus Deutschland nicht bekannt.
Unterscheidung von ähnlichen Arten
Die Nominatsippe Neotinea ustulata blüht etwa vier Wochen früher; im Gebirge gleichen sich die Blütezeiten an. Hier kommt es häufiger zu Übergangsformen mit intermediärer Blütezeit als im Tiefland. Das Hauptunterscheidungsmerkmal ist neben der abweichenden Blütezeit der höhere Wuchs der spätblühenden Varietät und jedenfalls in Mitteleuropa ein rosettiges Blatt weniger und stattdessen ein Stängelblatt mehr als bei der Nominatform. Die Öffnung der Perigonblätter kann bei beiden Formen unterschiedlich sein und ist als Abgrenzungskriterium ungeeignet.
Wuchsorte
N. ustulata var. aestivalis bevorzugt Halbtrockenrasen und warme Lagen auf stickstoffarmen Wiesen und Almen, kommt aber auch auf Flussschotter und sogar in etwas trockeneren Flächen von gepflegten Flachmooren vor. Sie ist aber im Gegensatz zur Nominatart strenger an Kalkböden gebunden. Es gibt gemeinsame, aber auch getrennte Vorkommen beider Sippen.
Verbreitung
Die späte Varietät hat Vorkommen in Südengland, Dänemark, Mitteleuropa, Frankreich, Süddeutschland mit Ausstrahlungen in die Mittelgebirge Norddeutschlands, Schweiz, Österreich, Slowenien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Estland. In manchen Staaten kommt sie wegen der Bindung an Kalk aber nur regional vor. Meldungen aus Italien liegen nicht vor.
Gefährdung
Die späte Varietät ist gefährdet durch Eutrophierung der Standorte und Zuwachsen ungepflegter Biotope und Konkurrenzdruck durch z. B. die Kanadische Goldrute. Infolge der späten Blütezeit und späten Samenbildung ist sie durch die menschliche Bewirtschaftung der Wiesen und Weiden in der Sommerzeit besonders betroffen, so dass es – abgesehen von der Alpenregion - in Deutschland nur noch wenige Vorkommen gibt; diese liegen hier inzwischen weithin in Schutzgebieten.
Literaturhinweis
Der Text wurde überwiegend nach folgenden Literaturangaben erstellt:
- Baumann, H., Blatt, H. & H. Kretzschmar (2005): Orchis ustulata. In: Arbeitskreise Heimische Orchideen (Hrsg.): Die Orchideen Deutschlands, 638 – 645.- Uhlstädt-Kirchhasel.
- Baumann, H., Künkele, S. & R. Lorenz (2006): Die wildwachsenden Orchideen Europas mit angrenzenden Gebieten.- Stuttgart.
- Bergfeld, D. (2018): Neotinea ustulata var. aestivalis im Vergleich zur Nominatsippe – eine Zusammenfassung des Kenntnisstandes.- J. Eur. Orch. 50(1): 3‑42.
- Haraštová-Sobotková, M., Jersáková, J., Kindlmann, P. & L. Čurn (2005): Morphometric and genetic divergence among populations of Neotinea ustulata (Orchidaceae) with different flowering phenologics.- Folia Geobotanica 40: 385‑405.
- Tali, K., Fay, M. & R. Bateman (2006): Little genetic differentiation across Europe between early-flowering and late-flowering populations of the rapidly declining Neotinea ustulata.-Biological Journal of the Linnean Society, Vol. 87, 13-25.
Text: Dietrich Bergfeld
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