Orchideen in Baden-Württemberg
Epipactis leptochila subsp. neglecta Kümpel
Übersehene Stendelwurz
Synonyme: E. neglecta, E. leptochila var. neglecta, E. viridiflora
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Merkmale
Rhizomgeophyt, aus dem sich jährlich neue Sprosse entwickeln, die unterirdisch überwintern und im Frühjahr oberirdisch treiben. Fast alle Triebe entwickeln Blütenstängel, die zuweilen zur Gruppenbildung neigen. Diese Pflanzen erreichen eine Höhe zwischen 25 und 60 cm; die Stängel sind teilweise kräftig und manchmal leicht hin- und her gebogen. Der Stängel trägt am Grunde 2-3 Schuppenblätter, darüber 4-6 mehr oder weniger zweizeilig angeordnete grüne Stängelblätter, die oft bogig gekrümmt sind. Das unterste Stängelblatt ist einförmig, die weiteren breitlanzettlich, nur wenig zugespitzt, 5-9 cm lang und 1,5-5 cm breit. Nach oben werden die Blätter lanzettlich und etwas schmaler. Das oberste Stängelblatt ist tragblattartig, lang zugespitzt und erreicht fast den Blütenstand.
Der Blütenstand ist schwach einseitswendig, schwach behaart und nimmt die Hälfte oder ein Drittel der Länge des Stängels ein. Die unteren Tragblätter sind 20-70 mm lang. Und 2-5 mm breit. Der Stängel ist besetzt mit 8-30 mittelgroßen Blüten. Diese sind trübgrün bis weißlichgrün, bogig überhängend, weit geöffnet, ca. 15 mm groß und schließen sich rasch nach der Befruchtung. Die Sepalen sind eiförmig lanzettlich und asymmetrisch gekielt, 10-12 mm lang und 4-5 mm breit, dunkelgrün, oft violett überlaufen mit dunkelgrünen Mittelnerven und schräg abwärts gerichtet. Die Petalen sind breit eiförmig, etwas heller als die Sepalen, grünlichweiß, 8-10 mm lang und 4-4,5 mm breit, am Rande rosa und an den Ende leicht nach rückwärts gebogen mit dunklerem Mittelnerven. Die Lippe ist zweigliedrig. Die Hinterlippe ist flach schüsselförmig, an den Rändern rötlich, am Grunde dunkel rotbraun und wenig Nektar enthaltend. Die Vorderlippe ist relativ klein, schmal oval und manchmal verlängert, zugespitzt, vorgestreckt, verdreht oder häufiger rückwärts gebogen. Auch sind Vorderlippen zu finden, bei denen im Laufe der Blütezeit die Seiten der Vorderlippe nach hinten umgebogen werden; sie wirken dann von vorne gesehen extrem schmal. Die Vorderlippen weisen am Grunde mehr oder weniger schwach entwickelte Wülste auf; zuweilen fehlen sie. Die Farbe der Vorderlippe ist häufig grün bis rosa oder auch weiß. Der Durchgang zwischen Epichil und Hypochil ist häufig schmal gerundet oder fast spitz. Die Anthere ist ungestielt oder kurzgestielt. Die Rostelldrüse ist im Knospenstadium und in der frischen Blüte vorhanden, aber zu Beginn des Aufblühens nicht immer noch funktionsfähig. Die Pollinien zerbröseln häufig bereits in frischen Blüten. Neben Allogamie kommt es verbreitet zur Autogamie mit hohem Fruchtansatz. Die Früchte sind leicht hängend mit deutlichen Blütenresten an der Spitze.
Vegetations- und Blühzeiten
Der Austrieb erfolgt ab Anfang Mai. Die Blüte kann in tiefen Lagen bereits Ende Juni beginnen und ist Mitte Juli beendet. Die jeweiligen Populationen blühen rasch ab. Die frischen Blütenstände sind durch Wildverbiss gefährdet. Die Fruchtreife tritt ab Anfang September ein.
Hybriden
Es wird von Hybriden mit E. leptochila sowie E. helleborine berichtet.
Variabilität und Unterscheidung von anderen Arten
Diese Unterart ist sehr variabel. Nach der Überarbeitung (1996) der Erstbeschreibung (82/87) von Kümpel, die anhand von Pflanzen aus Thüringen erfolgte, sind die Populationen fakultativ autogam, können also regelmäßig eine zunächst noch wirksame Rostelldrüse aufweisen. Letzteres erschwert die Abgrenzung zu E. helleborine und ist der Grund dafür, dass diese Unterart häufig nicht erkannt wird. Die Unterscheidung muss aber aufgrund aller Merkmale erfolgen; dazu gehören der Habitus, neben den Blüten auch die Früchte, die bei der subsp. neglecta nicht hängen, sondern mehr oder weniger waagerecht abstehen. Letzteres ist bei der Nominatsippe von E. helleborine nicht festzustellen, bei subsp. neglecta aber ein konstantes Merkmal in ausnahmslos allen Populationen. Die Blüten weisen eine so große Variabilität auf, dass eine Bestimmung nur anhand einzelner Merkmale nicht zuverlässig möglich ist. So ist es nicht zutreffend, dass die Unterart generell eine verlängerte und nach unten zurückgebogene Vorderlippe ausweist; auch ist ein schlüssellochartiger Durchgang zwischen Vorder- und Hinterlippe kein verbreitetes Merkmal. Dieses Merkmal liegt häufig bei E. leptochila subsp. leptochila vor, aber auch dort nicht regelmäßig. Pflanzen mit einer nach innen gewölbten Vorderlippe sind eher zu E. leptochila subsp. leptochila zu stellen. Bekannt sind auch Populationen, die nicht eindeutig E. leptochila subsp. leptochila oder subsp. neglecta zuzuordnen sind. Pflanzen, die auch in der frischen Blüte keine Rostelldrüse aufweisen, sind normalerweise nicht zu subsp. neglecta zu stellen. Das völlige Fehlen ist ein Merkmal rein autogamer Arten, zu denen E. leptochila subsp. leptochila gehört.
Wie groß bei E. leptochila subsp. neglecta die Variabilität auch der Blüten ist, ergibt sich zuweilen bereits in derselben Population. Bereits an ein und demselben Blütenstängel ist die Regel, dass die frische Vorderlippe fast keine Faltung aufweist; im Laufe der Anthese entwickeln die meisten Vorderlippen eine Faltung nach hinten oder zur Seite, zuweilen am selben Blütenstand unterschiedlich. Dies kann in Druckmedien in dieser Vielfalt nicht dargestellt werden. So gibt es Blüten ohne oder mit starken Kalli, andere überraschen mit weißen, grünen, rosa-violetten oder rotbraunen Farben.
Abgesehen von Thüringen, einigen Bereichen Hessens und Bayerns wurden die hier vorgestellten Populationen bis vor wenigen Jahren entweder als E. helleborine oder E. leptochila subsp. leptochila interpretiert, ohne die generelle Übereinstimmung mit den von Kümpel erfassten Merkmalen zu bemerken. Es besteht keine Veranlassung, die Unterart E. leptochila subsp. neglecta wegen unwesentlicher Abweichungen der Blütenmaße in verschiedene Taxa aufzutrennen oder Teile davon anderen Taxa zuzuschlagen, zu denen jeweils größere morphologische Unterschiede bestehen. Die große Variabilität der Unterart wird darum auch auf der Homepage des AHO Bayern betont. Die Populationen in Baden-Württemberg stimmen jedenfalls mit der Determination von E. leptochila subsp. neglecta durch Kümpel überein, so auch Reinhardt (2012: 33). Gleiche Populationen wie in Baden-Württemberg kommen nicht nur in Thüringen, Nordbayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Frankreich, sondern auch bis Griechenland vor.
Die am Rhein bei Karlsruhe zeitweise als E. bugacensis beurteilten Populationen gehören zu E. leptochila subsp. neglecta.
Wuchsorte
Die Unterart besiedelt vorwiegend luftfeuchte Buchenwälder, aber auch Fichtenforste. Sie kommt sowohl über Kalk- und Lößböden vor, ist hieran aber nicht gebunden.
Verbreitung
Die Vorkommen in Baden-Württemberg sind noch nicht hinreichend erforscht; die Unterart wurde bis vor kurzem als E. leptochila oder auch E. helleborine kartiert. Gefunden wurde sie inzwischen im Kraichgau und dem Kaiserstuhl auf Lößböden, im östlichen Schwarzwald auf Kalkböden, im Bodenseegebiet auf Geschiebe der Eiszeit sowie im Schwarzwald auf Sandstein.
Gefährdung
Als reine Waldart ist E. leptochila subsp. neglecta kaum gefährdet. Allerdings kann ein geschlossenes Kronendach im Buchenhochwald einzelne Vorkommen wegen Lichtmangel erlöschen lassen ebenso wie ein Kahlschlag.
Literaturhinweise
Der Text wurde überwiegend nach den folgenden Literaturangaben erstellt:
Baumann, H., Blatt, H. & H. Kretzschmar (2005): Epipactis leptochila subsp. neglecta - In: Arbeitskreise Heimische Orchideen (Hrsg): Die Orchideen Deutschlands: 394 – 396.- Uhlstädt-Kirchhasel.
Baumann, H., Künkele, S. & R. Lorenz (2006): Die Orchideen Europas mit angrenzenden Gebieten:- Stuttgart.
Bergfeld, D. & N. Berlinghof (2014): Neufunde von Epipactis leptochila subsp. neglecta in der Vorderpfalz, in Nordbaden (SW-Deutschland) sowie in den elsässischen Nordvogesen (Frankreich). – J. Eur. Orch. 46 (3/4): 578-586 mit weiteren Nachweisen.
Daiß, H. & H. Klumpp (2011): AHO-Exkursion am 23.07.2011 im Raum Freudenstadt. – J. Eur. Orch. 43(4): 893 ff.
Kümpel, H. (1982): Zur Kenntnis von Epipactis leptochila (Godf.) Godf.- Mitt. Arbeitskrs. Heim. Orch. DDR 11: 29-37.
Kümpel, H. (1987): Nachtrag zur Kenntnis von Epipactis leptochila (Godf.) Godf.- Mitt. Arbeitskrs. Heim. Orch. DDR 15: 58 („1986“).
Kümpel, H. (1996): Die wildwachsenden Orchideen der Rhön.- Lebensweise, Verbreitung, Gefährdung, Schutz. - Jena.
Reinhard, J. (2012): Epipactis viridiflora Reichenbach („Grünblüthige Sumpfwurz“) – das Schicksahl des Taxons im Wechselspiel der sich ändernden taxonomischen Betrachtungsweisen (Orchidaceae). Teil 3: G. Reichenbach (1824 – 1889) Epipactis helleborine 3. Varianz Crantz und Bemerkungen über die Verbreitung der fakultativ allogamen Epipactis (= E. viridiflora RCHB.) sowie zum Taxon Epipactis leptochila (Goodgery) Goodfery var. neglecta (Kümpel) A. Gévaudan.- Ber. Arbeitskrs. Heim. Orchid. 29(1): 6-56.
Text: Dietrich Bergfeld
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